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Ich denke, also bin ich

von Simon Salzl aka TwinYawgmoth

Teil 5 - Trang Ouls Triumph

Kapitel 16 - Harrogaths Verluste

Deckard Cain betritt raschen Schrittes die Schankstube. »Wie lange habe ich geschlafen?«, fragt er knapp.
»Nur etwas mehr als zwei Stunden«, höre ich mich sagen. Der Zweite hat übernommen, während ich immer noch nicht klar denken kann - oder weiß, was ich überhaupt denken sollen. Der Meister hat sich von mir verabschiedet. Als er den Helm aufgesetzt hat, ist er zu jemanden geworden, der nichts mehr mit dem zu tun hat, den ich so lange kannte. Ich habe es schon länger geahnt, je mehr er sich in das Sammeln der Teile des Trang-Oul Sets gesteigert hat, aber ich wollte es nicht wahrhaben.
Jetzt weiß ich, dass er es selbst bemerkt hat, diese Veränderung, die in ihm vorging - und er hat sie ignoriert. Oder will ich nicht lieber denken, dass er es in Kauf genommen hat, ein Opfer gebracht? Wie seine jetzt verkrüppelten Hände. Kann man so etwas wirklich zur Seite wischen, als wäre es völlig egal? Nur im Namen der Funktion? Es ist immer die Mission, immer nur die Mission ... und was ist mit dem Menschen dahinter? Muss er denn sterben, um zu dem Helden zu werden, den wir brauchen?
So ist mir dann doch klar, was der eigentliche Gedanke sein muss, und welche Frage beantwortet werden muss: Ist er wirklich für immer verloren, oder kann ich ihn zurückholen? Bekomme ich den alten General, meinen Freund, aus der Hülle dieses abartigen Seelengefängnisses heraus, oder wird er immer weiter erdrückt werden, bis es zu spät ist?

»Dann ist wenigstens nicht zu viel Zeit verloren gegangen«, brummt Deckard. Ha, welch Ironie. Ich will herausschreien, wie verrückt alles geworden ist - diese Stunde, die vielleicht für die Mission zu verschmerzen war, aber den Meister so viel gekostet hat, weil wir die Handschuhe gewonnen haben.

Kannst du mir dein Melodrama endlich mal ersparen? Falls es dir nicht aufgefallen ist, diese Handschuhe haben es ihm erlaubt, mit einer einzigen Attacke Azmodan selbst auszuschalten und damit Belial in der Hölle garantiert ebenfalls Probleme zu bereiten. Das ist ein voller Erfolg, und alles andere ist die ekelhafteste Schwarzmalerei von deiner Seite. Warst du nicht der von uns beiden, der immer so vor Optimismus getrieft hat?

Er hat sich ... verabschiedet ...

»Und ein wenig gewonnen habe ich auch. Rufst du nun Tyrael?«
Deckard hebt eine Augenbraue. »Plötzlich so forsch, junger Freund? Aber natürlich freue ich mich, dass Ihr bereit seid, nun schnellstmöglich zu handeln. Tyrael habe ich noch informiert, bevor ...«
Plötzlich ist der Raum von Licht erfüllt, weit heller, als die Reflexion der Wüstensonne auf dem weißesten Sand es je zustande bringen könnte. Dennoch blendet es nicht. Im Zentrum dieser Explosion an dem Gegenteil aller Farben schwebt der Erzengel über dem Boden, das Gesicht unsichtbar, im Schatten hinter seiner Kapuze; es versetzt mir einen kurzen Stich durch die Körpermitte, als ich erkenne, dass es hinter dem lose fallenden braunen, so bescheiden und deswegen so unpassendem Stoff, genauso aussieht wie hinter den Augenhöhlen des Schädels, den der Meister trägt.
Persönlichkeitslose Schwärze. Die hell strahlend goldene Rüstung des Engels und die dunkelgoldene des Menschen täuschen beide. Ich mochte Tyrael noch nie, geschweige denn habe ich ihm vertraut, aber jetzt packt mich ein fürchterliches Gefühl; und weil ich gerade, wohl immer noch im Schockzustand, in messerscharfer, abgehobener Klarheit denke, weiß ich auch, wie dieses Gefühl zu nennen ist: Paranoia. Wenn mein eigener Meister sich selbst verrät ... wem kann ich denn dann noch trauen?

Mir, natürlich.

Diese Gedanken waren nicht für dich bestimmt! Halt dich aus meinem Kopf raus!

Dafür ist es ein klein wenig zu spät, nicht wahr?

Aber ... ich konnte dich doch immer ausschließen ...
Ein Rasseln wie von Ketten an den Geistern verhungerter Gefangener erklingt; der Meister klatscht träge in die behandschuhten Hände. »Ein schöner Auftritt, Tyrael. Aber übertreibst du nicht ein wenig? Was sollen die Leute denken?« Mein Auge für Details stellt kühl fest, dass draußen auf der Straße niemand das Leuchtfeuer an zur Schau gestellter Heiligkeit in der Taverne zu bemerken scheint.
Der Erzengel ignoriert die Frage. »General. Ich bin froh, dass Ihr zugestimmt habt, Euch erneut mit mir zu treffen. Wie Euch Deckard Cain sicher mitgeteilt hat, möchte ich mich in aller Form für mein vergangenes Verhalten entschuldigen. Als Geste guten Willens werde ich Euch weitere Gespräche mit dem Totenbeschwörer Tenarion ermöglichen, gerne sofort, und Euch so gut auf Euerem weiteren Weg unterstützen, wie es mir möglich ist.«
Das ... hat er schön gesagt. Ich weiß nicht, ob er das vorher mit Deckard einstudiert hat, aber selbst wenn ... die scharfen Kanten meines Misstrauens bröckeln etwas.

Jetzt lässt du dich auf einmal einlullen? Du bist wirklich komplett durch den Wind, oder?

»Also nicht wirklich, oder? Bis jetzt warst du ja auch nur eine eher periphere Hilfe. Aber gut, zumindest die schnelle Reise nach Harrogath ist deutlich mehr wert als alles, was du sonst für uns getan hast. Ich nehme dieses Angebot an. Gerne, wie du sagtest, sofort.«
Er steht auf.
»Und was ist mit Tenarion?«, werfe ich hastig ein, bevor Tyrael einen Kommentar zu der Unverschämtheit des Meisters machen kann.
»Weißt du, Dorelem, ich glaube einfach, dass er mir nicht mehr besonders helfen kann - hat er nicht selbst des Öfteren gesagt, dass ich ihn schon vor den ganzen Ereignissen der letzten Monate deutlich an Stärke übertroffen hatte? Nein, wir müssen das nicht mehr herauszögern. Deckard hat ja ganz Recht. Mein Weg führt nach Norden, und der meines Dolches in das Herz von Baal.«
Eisige Stille nach gleichwarmer Rede. Dann breitet Tyrael die Arme aus, hinter denen die Tentakel-artigen Lichtflügel träge dahinwabern. »So müssen wir denn nicht warten. Ihr seid wirklich bereit für die Reise?« »Ja.«
Tyrael winkt mit einer Hand, und ein rotes Portal erscheint im Raum. Sofort wird es merklich kälter.
»Dahinter liegt Harrogath, die letzte und dennoch schon verlorene Bastion der Menschheit.«
»Es ist doch immer schön, etwas zu tun zu haben«, sagt der Meister trocken.
Für einen winzigen Moment zögert er, bevor er hindurchschreitet. Atma steht am Fuß der Treppe; seine Ersatzmutter umklammert das Geschenk, das er ihr gegeben hat, den unendlichen Milchsack, als wäre es ein geliebtes Kleinkind. Die Blicke von Mutter und Sohn treffen sich für diesen wortwörtlichen Augenblick des Zögerns. Was sieht sie hinter seinen schwarzen Augenhöhlen? Den Grund, weswegen sie kein Wort herausbringt, als sie den Mund öffnet zum Abschied, schwach die Hand hebt? Oder einen Grund, es zumindest zu versuchen, obwohl er nichts sagt?

Wir sind am anderen Ende der Welt, ein Golem, der sich so schwach und verletzlich, ja, verletzt fühlt wie selten zuvor, und darum irgendwie auch unglaublich menschlich; eine Armee stummer Skelette; ein ebenfalls deutlich stiller gewordener Horadrim-Weiser, der Wohlmeinendste von uns allen; und zuletzt der Held, der seine Menschlichkeit immer seiner Aufgabe untergeordnet hat ...
Das ist also Harrogath. Wir sind an einem relativ hohen Punkt durch das Portal gekommen, sodass ich einen recht guten Überblick habe. Das Städtchen besteht aus genug Häusern für etwa tausend Menschen, einem kleinen Markt mit dem einzigen offenerem Platz, ansonsten ist alles sehr kompakt, und einer hohen Mauer um jedes Gebäude. Diese sind größtenteils gedrungen, mit Ausnahme von einigen Türmen, die von innen über die Befestigungen blicken. Auf einen Blick zu erkennen ist, dass sie von außerordentlicher Qualität sind - sie wirken exakt so undurchdringlich, wie sie vermutlich auch sind. Wie die Wohnhäuser selbst: grober Stein, aber perfekt verfugt, wenig Holz, feuersicher - kein Schmuck, kein Verputz, die Form folgt der Funktion. Mit einem Wort: Eine Festung. Ich sehe Menschen auf der Straße, auffallend wenig Männer, aber die Frauen sehen nicht weniger zäh aus. Ein kantiges und hartes Volk, zumindest hier, direkt unter dem heiligen Berg Arreat ...
Mein Blick wandert nach oben. Dort thront er, ein gewaltiges Gebirgsmassiv, etwas, das ich so noch nie gesehen habe. Es sollte mich also mehr beeindrucken, aber irgendwie wirkt es dafür zu ... bekannt?
Schnell durchforste ich meine Erinnerungen, da stoße ich darauf - oder hat mir der Zweite nachgeholfen? In dieser fürchterlichen Episode aus seinem Leben, die er mir aufgezwungen hat, als er für eine Weile die Kontrolle übernommen hatte, um mich mit den Bildern zu foltern ... als er die Frau eines der Gegner seines Meisters brutal ermordete, und nur ganz knapp nicht auch noch ihre Kinder mit meuchelte ...
Am Horizont, was ich damals vor lauter Schock gar nicht registriert hatte, der Arreat.
»Bei Bul-Kathos' Schwertern! Deckard Cain.«
Von hinter dem Portal ist eine Frau hergeeilt. Sie ist alt, sicherlich über siebzig Jahre. Dennoch ist das einzige Zeichen von Schwäche in ihrer Haltung, dass sie leicht vorgebeugt dasteht. Die weißen und braunen Roben, die sie trägt, wirken nicht besonders gut geeignet, die Kälte zurückzuhalten, aber kein Zittern ist in ihren greisen Händen. Ihre farbfreien Haare sind in einem strengen Dutt zusammengehalten, der zu ihrem Ausdruck passt: in Falten des Alters mischen sich eindeutig solche der Sorgen, und ihre grünen Augen wirken unglaublich müde. Als sie den Namen des Horadrim-Weisen ausspricht, leuchten sie jedoch für einen Moment auf; Hoffnung und ... noch etwas anderes?
»Malah. Es ist mir die höchste Freude, dich wieder und wohl zu sehen.«
»Wohl? Nicht im geringsten. Schon gar nicht, wenn ich höre, dass du immer noch unnötig geschwollen daher redest. Wie lange ist es her, dass du damit angefangen hast, und wie lange habe ich dir schon gesagt, du sollst dir den Unfug sparen?«
Malahs raue Stimme ist steinhart wie der Rest von ihr, aber trotz ihrer jetzt fast aufrechten Haltung, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, geht die Milde darin nicht vollkommen unter. Deckard lächelt ein warmes Lächeln.
»Viel zu lange, Mädchen«, gibt er zurück, und dann umarmen sich die beiden alten Menschen. Er keucht etwas. Nach dieser herzlichen, aber knappen Geste trennen sie sich schnell wieder; der Weise ist fast gleich groß wie die Barbarin, und Deckard ist kein kleiner Mann, zumal er immer noch sehr aufrecht geht.
Etwas peinlich langgezogenes Schweigen kommt auf. Es ist offensichtlich, dass Malah und Deckard sich schon sehr lange kennen; wer weiß, warum sie nicht sofort mehr Worte füreinander finden? Der Meister gibt sich derweil zufrieden damit, die Augen über die Dächer der Stadt schweifen zu lassen; ab und an bleibt er an einem kleinen Detail hängen. Ich folge seinem Blick; da! Dieses Haus scheint eingestürzt, fast hätte ich es übersehen. Die Rauchsäule da hinten ... sie kommt nicht aus einem Kamin. Und ist die Stadtmauer in Richtung Norden ...?
Plötzlich donnert ein Projektil gegen die hohe Mauer, lässt Steine absplittern in einer Explosion aus leuchtendem Feuer. Die Flammen zischen noch lange nach, während der Schnee darauf fällt, ohne Hoffnung auf schnelles Löschen. Ein weiteres Geschoss fliegt auf die Mauer zu, etwas höher gezielt; es prallt an der Innenseite ab, rollt nach unten, eine grüne Kugel; beim Aufprall auf den Boden wird eine Giftwolke frei, sie füllt die Gasse zwischen Häusern und Mauer. Kein Rauch aus diesen Kaminen, kein Feuerschein hinter den Fenstern ... in weiser Voraussicht befindet sich dort niemand, und kein Bewohner betritt noch den Weg, wo das Geschoss gelandet ist. Verteidiger laufen jetzt auf den Rand der Mauer, begutachten den Schaden; schnell, bevor ein weiterer Schuss abgefeuert wird, beschließen sie, dass die Barrikade hält - noch - und verschwinden wieder in Sicherheit. Die meisten von ihnen sind noch sehr jung.
»Ihr seid schwer in Bedrängnis«, stellt Deckard schließlich fest. »Wie lange werdet ihr noch aushalten?«
»Bis die Welt stirbt. Harrogath wird nicht fallen. Aber das ist nicht das Problem, nicht wahr?«
»Nein. Ist es nicht.«
»Du wirst bemerkt haben, von welcher Seite die Angriffe kommen.«
Cain wird bleich. »Von den Bergflanken.«
»Genau, Deckard«, sagt Malah, mit Verachtung und Enttäuschung im Ausdruck. »Baal hat längst gesiegt. Wir konnten ihn nicht aufhalten. Wochenlang sah es so aus, als ob wir bestehen könnten, auch ohne Hilfe. Alle waren zu stolz, um um Hilfe zu bitten. Aber ich wusste, dass wir nicht gewinnen konnten. Ich nutzte Wissen, das du mir vor so langer Zeit verraten hast, kontaktierte Tyrael. Er versprach, für Unterstützung zu sorgen. Ist sie das? Dieser ... dieser eine Mensch und diese Dinger?«
Vielleicht meint sie nur die Skelette ... nein, natürlich nicht. Aber was soll ich mich beschweren, diese erste Reaktion auf mich ist zumindest nachvollziehbar. Nein, ich werde ihr nicht böse sein, bevor sie mich näher kennen gelernt hat. Vorverurteilen tun die anderen.
»Es sieht ganz danach aus. Es ist mir eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen, Malah. Man nennt mich den General. Mögen Euer Herd mit Wärme und Eure Familie mit Stolz erfüllt sein.«

Oh, sind wir heute aber formell.

Ist das eine klassische Begrüßung, oder wie?
Sie runzelt kurz die Stirn, dann seufzt sie. »Und Euer Feuer ewig leuchten und ... deine Familie ... irgendetwas mit Ehre? Junge, ich bin wirklich zu müde, um hier um den heißen Brei herumzureden. Wer bist du, und warum hat man dich geschickt?«
»Ich bin der, der Mephisto und Diablo besiegt hat. Ich werde auch Baal besiegen.«
»Du, ganz allein?«, fragt Malah ungläubig. Deckard nickt bedächtig. »Er, ganz allein. Malah, ich habe vollstes Vertrauen in seine Fähigkeiten.«
»Das ist natürlich wunderbar.« Ihre Stimme verrät, dass sie das überhaupt nicht wunderbar findet. »Aber, und die Frage erlaube ich mir jetzt, warum kommt er erst jetzt? Tyrael ist ein Erzengel! Das ist ein einziger Mensch! Er hätte ihn doch längst holen können, und nicht volle fünf Tage, nachdem ich in höchster Verzweiflung um Hilfe gebeten habe!«
»Es war ... etwas komplizierter«, versucht Deckard lahm zu beschwichtigen, aber Malah ist längst nicht fertig.
»Zwei weitere Tage haben wir durchgehalten, Deckard. Stets in der Hoffnung, dass der Rest der Welt von unserer schrecklichen Lage erfährt, denn ein Erzengel weiß ja Bescheid, und er hat versprochen, dich sofort zu alarmieren, und du kennst jeden Herrscher der Welt persönlich!«
Himmel, ist sie wütend. Wenn ich jetzt bedenke, dass der Meister meinte, es kann ja nicht so unglaublich eilen, und ein halber Tag Verspätung ist kein Problem ... ich verstehe jetzt auch, warum Deckard so frustriert war, dass er uns so lange nicht gefunden hat. Was denkt der Meister darüber? Keine Ahnung - hinter den schwarzen Augenhöhlen ist sein Ausdruck unlesbar.
»Malah ... ich will nicht sagen, dass Tyrael, ich, oder sonstwer alles richtig gemacht haben. Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Mephisto und Diablo haben ihr Bestes getan, um die Welt ins Chaos zu stürzen, in der kurzen Zeit, die sie frei waren - die Herrscher dieser Welt sind mit sich selbst beschäftigt. Waren sie viel zu sehr, bevor dieser ganze Wahnsinn begonnen hat, um etwas dagegen unternehmen zu können, und sind es jetzt mehr denn je. Oder tot. Kehjistan ist in weiten Teilen verwüstet, überall wo Diablos Weg hindurchführte. Lut Gholein ist politisch instabiler, als es je war, mit einem Jerhyn an der Spitze, der nicht einmal mehr in seinem eigenen Palast wirkliche Macht inne hält. Kurast ist weg. Die Stadt ist vom Erdboden verschwunden, Malah. Ich weiß, dass ihr es auch nicht leicht hattet, aber bitte, versteh auch ein wenig den Ernst der Lage anderer.«
Da ist er aber sehr großzügig dem Meister gegenüber - immerhin ist der ganz und gar nicht unschuldig daran, dass es so lange gedauert hat ...
Malah schließt die Augen und strafft sich. Dann flüstert sie: »Weißt du, was hier vor drei Tagen passiert ist?«
Deckard gibt ihr keine Antwort, und nach kurzer Zeit redet sie tonlos weiter. »Die Ältesten hatten einen magischen Schutzschild gegen Baals Angriffe aufgebaut. Wie geplant, war er ausgezeichnet geeignet, der Macht der Dämonenarmee zu widerstehen. Sie mussten sich auf ihre Armee verlassen, und es war eine gewaltige Menge, aber wir waren ihnen gewachsen. Harrogath hat sich seit Jahrhunderten auf so einen Angriff vorbereitet. Es sah so aus, als könnten wir Monate aushalten. Fast dachte ich, meine Sorgen wären unbegründet.
Und dann versagte der Schild. Es gab eine Rückkopplung.«
Deckard streckt den Arm aus, hält aber inne, bevor er ihre Schulter berührt. »Sag mir nicht, dass Aust ...«
Malahs Stimme bricht. »Bis auf einen sind alle ... «
Der Horadrim-Weise lässt den Arm sinken, hilflos.
Heiser fährt Malah fort. »Nachdem die Barriere gebrochen war, regneten die Katapulte die Hölle auf uns nieder. Ihre magischen Geschosse haben die Häuser größtenteils intakt gelassen, aber uns so viele Leben gekostet. Die von uns, die verschont geblieben sind, haben sich zurückgezogen, auf den Angriff gewartet ... aber er kam nicht. Stattdessen sind die Dämonen über die Bergflanken gezogen, haben die Stadt ignoriert - wohl wissend, dass wir sie im Häuserkampf aufgerieben hätten. Jetzt stehen ihre Katapulte auf dem Vorgebirge, sie haben den ganzen Berg befestigt ...«
»Das verstehe ich nicht ganz«, meldet sich auf einmal der Meister. »Sie haben die ganze Armee über den Pass geschafft, weil Harrogath den direkten Weg blockiert - wozu? Sie hätten die Stadt genauso von Süden aus bombardieren können.«
»Baal will nicht, dass wir ihm folgen!«, zischt Malah. »Jeder Krieger, der noch stehen kann, weiß, was unsere Aufgabe ist. Wir dürfen ihn nicht zum Weltstein gelangen lassen. Die Belagerungsarmee will ihm den Rücken freihalten, nichts weiter. Ob wir fallen oder nicht, ist für ihn doch völlig egal. Also müssen wir sie schlagen, koste es, was es wolle. Ihre Katapulte vernichten, seine Truppen vernichten, den Arreat erklimmen und ihn daran hindern, den Weltsteinturm zu erreichen. Sicher arbeitet er bereits daran, das Siegel der Urahnen zu brechen. Das darf nicht geschehen! Koste es, was es wolle ...«
Mit Bestürzung blickt Deckard sie an, hat die Verzweiflung aus ihrem Tonfall gehört. Sie beißt die Zähne zusammen.
»Ja, auch Bannuk.«
»Malah ...«
»Ich will nichts hören, Deckard!«, schnappt sie. »Ich bin so stolz auf meinen Sohn. Er hat sich der unmöglichen Aufgabe gestellt, diese Dämonen vom heiligen Boden zu entfernen, und er hat so viele von ihnen mitgenommen wie wenige andere. Wenn es sein muss, nehme ich selbst ein Schwert, eine Axt, einen verdammten Hammer in die Hand und jage sie zur Hölle. Bis der letzte von uns sein Blut auf den Hochlanden vergossen hat werden wir kämpfen!«
Ihre Augen sind trocken. In ihnen lodert ein Feuer, eine Leidenschaft, die ich bewundere. Die letzten Minuten hat Deckard immer betretener, voller Scham zu Boden gesehen. Jetzt lässt er sich auch anstecken. Erwidert ihren Blick. Und diesmal schafft er es, sie zu berühren, und sie akzeptiert seine feste Umarmung, in der er nicht keucht.
»Wir werden dafür sorgen, dass all die Opfer nicht umsonst waren, Malah. Das verspreche ich dir.«
»Wenigstens weiß ich, dass ich dir mehr vertrauen kann als dem Engel, alter Narr«, haucht sie. Dann löst sie sich wieder, sieht den Meister an. »Was ist also mit dir? Willst du auch gegen diese Monster kämpfen, deinen Beitrag leisten?«
»Ich werde keinen 'Beitrag' leisten. Ich werde den Berg besteigen und Baal vernichten«, erklärt der Meister ruhig. Die alte Frau schnaubt. »Ha! Wir planen für morgen einen Ausfall. Rede mit Qua-Kehk, unserem Truppenführer. Vielleicht erlaubt er dir, mit zu kämpfen. Aber du wirst schon sehr überzeugend sein müssen. Niemand hier wird Hilfe von außen annehmen, zumindest nicht offen.«
»Für wann ist dieser Ausfall angesetzt?«, fragt der Meister.
»Eine Stunde nach der Dämmerung, wenn die aufgehende Sonne schon etwas nach Süden gewandert ist und damit die Angreifer blendet.«
»Wunderbar. Dann brauche ich bis morgen natürlich eine Bleibe.«
»Das werden wir hinbekommen«, sagt Malah. Dann dreht sie sich zu dem Gebäude hinter ihr und brüllt plötzlich gellend: »Anya!«
Kurz darauf tritt eine schwarzhaarige Frau aus dem steinernen Türrahmen. Sie hat das gleiche Grün wie Malah in ihren großen Augen, und auch ihre ähnlichen Gesichtszüge verraten die Verwandtschaft. Beide Barbarinnen haben das harte Kinn, das hier vorzuherrschen scheint, und wie gemeißelt wirkende Wangenknochen. Anya ist bei weitem nicht so drahtig wie Malah, aber nicht ansatzweise dick - nur breiter, Hüften wie Schultern. Die leichte Fülle lässt sie gesünder wirken, wobei auch bei ihr eine tiefliegende Trauer zu erkennen ist. Dennoch setzt sie ein fröhliches Lächeln auf, als sie uns sieht. »Was gibts, Mama?«, fragt sie Malah, während sie ihre Hände an der groben Lederschürze abwischt, die sie trägt. Diese und ihre Unterarme bis zum Ellenbogen sind komplett blutverschmiert.
»Wie geht es Wulfgar?«
Anyas Lächeln wird noch etwas breiter. »Er kommt durch, da bin ich mir ganz sicher!«
»Großartig, Mädchen«, sagt Malah, Erleichterung in der Stimme. »Dann solltest du Zeit haben, dich um unsere Überraschungsgäste zu kümmern. Kennst du Deckard noch?«
»Deckard? Tatsächlich! Ich glaub es ja nicht! Wie lange ist das jetzt her?«, ruft Anya, streckt die Arme aus, aber überlegt es sich schnell anders, als sie ihre blutigen Hände sieht.
»Etwa sechzehn Jahre«, antwortet der Horadrim-Weise. »Du warst bei meinem letzten Besuch nicht da.«
Anyas Ausdruck wird leer, dann wendet sie ihren Blick hilfesuchend an Malah. »Als du beim Meister in Sescheron gelernt hast.«
Deckard lächelt Anya wohlwollend an. »Dass du wieder zurück bist, heißt hoffentlich, dass deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen ist?«
Sie strahlt. »Ja! Ich kann mein Talent endlich voll nutzen! Ist auch bitter nötig ...«
Malah legt ihr eine Hand auf die Schulter. »Tochter, erzähl ihnen das auf dem Weg. Sie brauchen jeweils eine Unterkunft - findet sich schnell, leider - und du kannst ihnen auch die Stadt zeigen, was noch davon übrig ist. Ich kümmere mich weiter um unsere Tapferen.«
»Alles klar! Na, dann kommt mal mit. Wer bist du eigentlich?«, fragt sie den Meister.
»Ich bin der General. Wenn alles gut läuft, werde ich Baal für euch los.«
»Ach wirklich? Das wäre fantastisch! Freut mich, dich kennen zu lernen!« Enthusiastisch streckt Anya ihre Hand aus. Hat sie das Blut schon wieder vergessen?
Ohne zu zögern schüttelt der Meister sie. »Ebenfalls.«
Malahs Tochter blickt leicht geschockt, als sie ihren Fehler bemerkt, wischt sich die Hand etwas erfolglos an der hoffnungslos verdreckten Schürze, wird zerknirscht, als sie merkt, dass der Meister das auch falsch interpretieren könnte; schließlich zuckt sie verschämt die Schultern, und wendet sich mir zu. »Und du?«
Ich bin für einen Moment überrascht, dann verbeuge ich mich leicht. »Dorelem. Sehr erfreut.« »Ah, der kann ja reden! Neuestes Modell?«
»Guter Meister«, sage ich, den Daumen auf eben jenen gerichtet. Sie kichert. »Das lässt ja hoffen!«
Die Frau ist mir sympathisch.

Ihr seid beide leicht dämlich, also wundert mich das nicht.

Nur, weil sie etwas tolpatschig ist?

Und 'etwas' naiv, so wie es scheint.

Ja, das bin ich auch, aber gerne.
»Also, dann kommt mal mit«, ruft Anya und geht los. Wir steigen eine Treppe herab, vor derem Fuß links ein Gebäude steht, und vor diesem ein Mann mit gewaltigen Muskeln. Er hämmert gerade auf ein rotglühendes Stück Metall ein. Sein Kopf ist fast komplett haarlos; das allerdings nicht absichtlich, wenn ich seine vielfach hässlich gerötete Haut richtig interpretiere. Der nackte Oberkörper glänzt im Feuerschein der Schmiede vor Schweiß, seine Zähne sind zusammengebissen; er muss aufgrund der Belagerung seit Tagen die ganze Zeit am Arbeiten sein.
»Ho, Larzuk!«, ruft unsere Führerin. Er schmiedet einfach weiter, grunzt aber etwas Unverständliches zurück als Zeichen, dass er sie gehört hat. Für eine Weile stehen wir geduldig da, während er das aktuelle Eisen vollendet; der Meister blickt sich derweil mäßig interessiert die Reihen an Schwertern und Schilden, Rüstungen und Kettenhandschuhen an.
Schließlich lässt Larzuk das heiße Metall zischend in einen Eimer fallen und wendet sich uns zu. »Hallo, Anya. Du willst deine Sachen abholen? Ich bring sie dir gleich.«
»Ach, bist du schon fertig?«
»Seit Stunden. Wo warst du die ganze Zeit? «Sein Blick fällt auf ihre blutigen Arme. »Ah ... Malah aushelfen? Das ist natürlich eine gute Entschuldigung.«
Anya verzieht das Gesicht. »Danke für die Erinnerung. «Sie deutet fragend auf den Eimer, den Larzuk gerade zum Kühlen des Metalls benutzt hat, und er nickt. Darin wäscht sie sich das Blut weg.
»Nicht besonders sauber«, murmelt der Meister. »Tatsächlich Barbaren.«
Ich zucke mit den Schultern. Während Anya sich notdürftig reinigt, spricht der Schmied den Meister an: »Und du bist?« »Das sind der General und Dorelem«, antwortet Anya für uns. »Sie wollen was gegen die Belagerung unternehmen!« »Was? Die ganz allein?«
»Das zu hören langweilt mich langsam ...«, wirft der Meister ein. Anya kichert und geht in das Lager der Schmiede. Larzuk schnaubt. »Na ja, schaden werdet ihr sicher nicht. Braucht ihr irgendwelche Waffen? Rüstung? Wenn ja, könnt ihr es bezahlen? Alles hier ist für unsere Krieger reserviert. Aber ich mache eine Ausnahme, wenn es mir Material verschafft.«
»Eigentlich ...«, beginnt der Meister, dann sieht er, wie Anya mit einem gewaltigen Stapel wacklig balancierter Ausrüstung zurückkommt und unterbricht sich. »Darf ich fragen, was du damit vorhast, Anya?«
»Ich verstärke es durch...hoppla...« Fast fällt ihr eine Axt auf den Fuß, aber sie fängt sie gerade noch ab. Ich trete hinzu und nehme ihr wortlos etwas ab. »Danke! Verstärke durch Verzauberungen. Mama hat ein Talent fürs Heilen, aber ich bin eher aufs Grobe veranlagt. Wenn man Magie überhaupt so nennen kann, ha! Äh, gibt es noch was zu bereden hier oder können wir weiter gehen?«
Der Meister reibt sich das Kinn, wirft mir einen seltsam langen Blick zu, dann sagt er: »Ja. Aber vielleicht komme ich noch auf euch beide zurück.«
Harrogath ist wenig größer als ein Dorf, jedoch deutlich imposanter aufgrund der Befestigung - und der hoch aufragenden Bergflanken des Passes, den es eigentlich blockieren soll. So gehen wir von Larzuks Schmiede aus nur eine etwas breitere Straße entlang und dann links, um innerhalb von nur wenigen Minuten Anyas Haus zu erreichen. Sie hat mehrere Stände davor aufgebaut, auf die sie das von Larzuk erhaltene Rüstzeug jetzt verteilt. »So. Die bearbeite ich später, dauert zum Glück nicht so lange wie das Schmieden, darum kann ich Mama mit den Verwundeten helfen. Oder euch etwas rumführen, schätze ich. Suchen wir als nächstes mal nach einer Unterkunft ...«
Sie kratzt sich am Kopf, dann zuckt sie mit den Schultern. »Warum nicht, das spart Arbeit. Hier entlang ...«
Die Hütte, zu der sie uns führt, ist für Harrogather Verhältnisse recht imposant. Neben der Tür sind sogar grobe Holzstatuen aufgestellt, recht hässliche Totems, aber sicher den Barbaren sehr wichtig. Im Halbdunkel des Innenraums - die Fenster sind eng, damit sie sich gut mit Holzläden verschließen lassen - sehe ich, dass die relative Größe des Gebäudes daher rührt, dass es ein weiteres halbes Stockwerk über dem auf Bodenniveau besitzt, ein Holzboden in etwa zwei Metern Höhe, erreichbar über eine Leiter.
»Hier willst du uns unterbringen?«, frage ich etwas ungläubig. Sie wirkt verletzt, deswegen rede ich schnell weiter. »Ich meine, das ist ja ein wirklich tolles Haus! Eines der schönsten hier!«
Ich spüre den verärgerten Blick des Meisters geradezu, aber das ist mir nicht so wichtig im Moment - Anya wirkt beruhigt.
»Hat es auch jedes Recht zu sein! Es ist ... oder besser war ... das meines Bruders.«
Bestürzt halte ich mir die Hand vor den Mund. »Oh Himmel, das tut mir Leid.«
»Bannuk ist gut gestorben«, sagt sie tapfer, aber ich höre den Schmerz aus ihrer Stimme. »So oder so hat es keinen Sinn, seinen Herd kalt zu lassen. Und da es ohnehin schon für einen Gast bereitet war ...«
Jetzt ist es die Stimme des Meisters, die bemüht emotionslos ist. »Welcher Gast denn?«
»Eine Frau namens Natalya«, erklärt Anya unschuldig. Ich halte innerlich den Atem an. »Wir dachten die ganze Zeit, sie wäre nur eine harmlose Botschafterin aus dem Osten, bis sie nach dem Fall des Schutzzaubers auf einmal erklärt hat, dass sie in Wirklichkeit eine Assassine ist! Sie hatte zumindest eine ähnlich beeindruckende Rüstung wie du, General, also haben wir sie gerne mitkämpfen lassen. Was sie wirklich gut gemacht hat! Bis sie ... allein zurückgekommen ist, nur mit der Nachricht von Bannuks Tod.«
»Und was hat sie dann getan?«, presst der Meister hervor.
Anyas Gesicht nimmt einen seltsamen Ausdruck an. Wundert sie sich über die Frage, ist sie verletzt, dass der Meister den Tod ihres Bruders ignoriert? »Sie ist einfach verschwunden«, sagt sie dann.

Lüge.

Sicher?

Wie Lettern auf Pergament, würde ich sagen, wenn die hier oben wüssten, wie man schreibt.

»Wann?«, fordert der Meister halb verzweifelt.
»Äh ... vorgestern?«, sagt Anya unsicher.
Die behandschuhten Fäuste des Meisters zittern, so fest ballt er sie zusammen. Sein Mund ist eine Grimasse des Schmerzes. So knapp ...

Bist du dir sicher, dass es nur das ist, oder auch der Umstand, dass sie offenbar die ganze Zeit, wo sie hier war, im Haus eines starken Barbarenkriegers übernachtet hat?

Meinst du wirklich ...

Ich meine hier überhaupt nichts, wichtig ist, was er meint. Oder...eigentlich nicht. Mir zumindest nicht.

»Kanntest du sie denn, General?«, versucht es Anya. Der Meister starrt für einen langen Moment in die Ferne.
»Ja. Wenn ich mich beeile, dann...«, sagt er schließlich. Sein Gegenüber macht einen Schritt nach vorne und streckt die Hand aus, aber bevor wir herausfinden, was sie vorhat, redet der Meister weiter. »Zunächst muss ich hier ankommen. Dorelem, wärst du so gut, unsere Sachen zu holen? Die Truhe ist ja noch in Lut Gholein, wehe, Tyrael hat sein blödes Portal geschlossen ...«
»Wir sind an einem Wegpunkt vorbeigekommen«, biete ich an. »Den kann Deckard sicher aktivieren, wenn das Federhirn wieder nicht an uns gedacht hat.«
»Gut, gut...«, winkt er mich hinaus. »Also, Anya, wo finde ich alles?«, höre ich ihn dann noch sagen, bevor ich aus dem Haus bin, und ich habe gerade keine Lust, mein Hörvermögen anzustrengen, um mehr mitzubekommen. Natalya ... sie war hier ... wenn wir nicht nach diesen verfluchten Setteilen gesucht hätten ... verdammt! Hoffentlich tut es dem Meister so leid wie mir!
Hoffentlich bittet er Larzuk darum, sie zu Staub zu zermahlen!


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