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Ich denke, also bin ich

von Simon Salzl aka TwinYawgmoth

Teil 5 - Trang Ouls Triumph

Kapitel 37 - der wahre Held

Ich bleibe eine Weile auf den Knien und versuche, zu begreifen, was gerade passiert ist. Der Meister ist tot. Der Meister ist vernichtet. Der Meister ist endgültig zerstört. Er war immer da, immer, mein ganzes ... Leben lang, jede Sekunde, die Kette um meinen Hals, die Glieder, die sich in mein Fleisch gruben, mich erstickten. Den ich mit jeder Faser meines Seins hassen wollte, aber nicht durfte, weil dieses Sein sonst ein Ende fände. Der mich zwang, mich selbst zu verraten, wieder und wieder und wieder und ...
Aber auch das ist jetzt vorbei! Ich muss mich nicht mehr selbst belügen, um mich zu schützen. Mich. Mich ganz allein. Allein in mir, Dorelem, der Golem - der beseelte ... Mensch in allem außer dem Körper.
Himmel, fühlt sich das gut an.
Nein, vergiss das wieder. Ein Fluch auf den Himmel! Im Himmel sitzen die Engel, und der einzige, der kommt, ist Tyrael. Tyrael, der glaubt, zu helfen, und alles nur schlimmer macht. Weil er nicht versteht und nicht verstehen will, wie wir Menschen überhaupt sind. Wenn er der Beste von ihnen ist ...
Also ... beim Arreat, fühlt sich das gut an! Ja, der heilige, der erhabene Berg, der hat mir geholfen. Hat mich erhört, als ich flehte. Und nichts verlangt dafür. Denn ich hatte schon freiwillig meine Hilfe angeboten. Meine Entscheidung. Meine eigene, freie Entscheidung.
Freiheit ...
Mein Blick fällt nach unten auf den bewusstlosen Mann in meinen Armen. Na ja, noch nicht ganz. Immerhin ist er jetzt auch frei. Und gleich noch mehr.
Schnell entferne ich Trang-Ouls goldenen Käfig vom Körper des Meisters. Darunter trägt er die warme Hose, die er hier geschneidert bekam, und sein weißes Novizenhemd in bedenklichem Zustand - er hat die Rüstung tagelang nicht abgelegt. Ohne große Scheu entferne ich beides und reibe ihn von oben bis unten mit Schnee ab. Das hilft dem Kreislauf. Und ich bin nicht darüber erhaben, dass es gut tut, ihm wortwörtlich den Kopf zu waschen. Du unglaublicher Vollidiot. Wie konntest du nur auf meine Einflüsterungen hören, getrieben von unser beider verfluchten Vergangenheit oder nicht? Und wo wir schon dabei sind, warum genau hast du dir gleich wieder dieses Pentagramm einritzen lassen, das immer noch wie eine frische Wunde wirkt?
Erkälten wird er sich schon nicht, dafür sorge ich auch, sobald die notdürftige Wäsche vorbei ist. Mein Feuer wärmt ihn sacht, während ich seine Kleidung auch noch etwas reinige. Nachdem er wieder Hose trägt, untersuche ich die Verletzung, die ich ihm zugefügt habe. Wie geplant, größtenteils oberflächlich, solange er die Schulter nicht übermäßig belastet, ist das bald verheilt. Die Folgen der Vergiftung mit dem scheußlichen Dolch hingegen ... nun, die werden wohl erst einmal verhindern, dass er die Schulter überhaupt benutzt. Etwas sagt mir, dass gerade der falsche Zeitpunkt wäre, um in Harrogath um Heilung zu bitten. Zumindest wären gewisse Erklärungen fällig, und das würde etwas kosten, das wir nicht haben: Zeit. Die drängt nämlich, ich spüre es ganz klar. Tief in mir, wo der Kontakt zum Berg schwächer wird ... wie der Berg selbst auch.
Wobei ich persönlich natürlich auch einen Grund hätte, in die Stadt zurück zu kehren. Lixt ...
Gerade, als ich abwäge, ob es nicht einfach nötig sein könnte, wacht der Meister ... General ... mein Freund auf.
Er fährt zusammen, mit weit aufgerissenen Augen, denn er ist aus einem Alptraum erwacht.
"Dorelem?"
Ich lächle ihn grimmig an. "Richtige Ansprache. Hast du dich also wieder gefunden?"
Er starrt mich an, sein ganzer Körper schlaff. "Du hast mich wieder gefunden. Ich hingegen ..."
Langsam hebt er seinen gesunden Arm, nachdem ein Versuch mit dem anderen ihn nur zusammenzucken hat lassen. Er zittert überall, und ich weiß, dass es nicht die Kälte sein kann, denn ich brenne gemütlich. Seine Hand landet über seinen Augen.
"Bitte sag mir, dass das alles nicht passiert ist. Dass ich nicht ..."
"Du hast gar nichts getan. Das war er."
"Nein, ich ..."
Er stößt mich schwach von sich, ich setze ihn ab und er sitzt, versucht aufzustehen, stolpert fast, ich komme schnell auch auf die Beine und halte ihn.
Sein Blick ist auf Natalyas verkohlte Leiche fixiert.
"Ich habe sie getötet ..."
Fast bricht er zusammen, aber mein Griff um seine Schultern hält ihn aufrecht. Wieder vergräbt er sein Gesicht hinter der Hand. "Natalya! Es tut mir so Leid!", heult er über das Plateau auf dem Gipfel des Arreats, und der Wind heult zurück.
Er schüttelt mich ab, wankt vorwärts, bricht vor ihr zusammen, schrammt sich die Knie an dem durch das Feuer ihres Mordes freigelegten Steinboden auf. Versucht, sie zu berühren, irgendeinen Teil von ihr, aber kann ihr nur hilflos über die Rüstung streichen, welche nahezu unversehrt ist. Ruß konnte sie nicht schwärzer machen, als sie schon ist.
"Natalya ... nein, nein, nein ..."
Seine Tränen zeichnen Spuren in die Asche.
Dann landet meine Hand auf seiner Schulter. Er versucht, sie abzuschütteln. "Nein, lass mich ... bitte ..."
Ich reiße ihn hoch und drehe ihn zu mir. "Nein, ich werde dich nicht lassen."
"Was fällt dir ein?", fährt er mich an, wild vor Trauer und Verzweiflung. Ich ertrage sein Fuchteln für einen Moment, und seine Beleidigungen, und sein Geschrei, und dann packe ich zuerst seinen gesunden Arm, dann den verletzten, durchaus unsanft. Was ihn für einen Moment verstummen lässt, und mehr brauche ich nicht.
"Du willst also in Selbstmitleid versinken, weil du vom General gezwungen wurdest, jemand zu ermorden? Soll ich mich dann gleich vom Gipfel stürzen? Weißt du, wie viele Morde ich für ihn begehen musste?"
Er keucht. "Du bist ... der Zweite?"
"Ich bin Dorelem", zische ich, "und war es immer und werde es auch immer bleiben. Es geht hier nicht um mich, sondern um dich. Reiß dich zusammen. Ich weiß, dass dich die Frage deiner persönlichen Schuld gerade schwer beschäftigt, das hat sie mich auch. Mir ist auch klar, dass ich dafür Jahrzehnte Zeit hatte und du nur ein paar Minuten, aber über diese Ungerechtigkeit kannst du dich später aufregen. Betonung auf nicht jetzt. Wir müssen in den Turm da hinten, wir müssen Baal daran hindern, den Weltstein zu korrumpieren, und dazu werden wir ihn vernichten. Ich würde dich ja hier lassen, um in Ruhe deine Seele ins Reine zu bringen, aber ich werde es alleine nicht schaffen. Die Welt braucht dich! Sei jetzt der Held, der du immer sein wolltest!"
"Der Held ..."
Er bricht in schallendes, schmerzhaftes Gelächter aus. "Der Held dieser Geschichte warst doch schon immer du."
Sein Lachen wird zum Kichern wird zum Schluchzen. "Du bist Dorelem, aber du bist auch der, der mal der Zweite war? Du weißt alles, was du getan hast?"
"Jede Sekunde."
Hilflos lässt er den. "Ich auch. Er wollte meine Seele für sich, und hat versucht, mich zu überfluten. Mit seiner Persönlichkeit, seinen Erinnerungen ... diese fürchterlichen ... Himmel, wenn ich nur daran ..."
Sein Zittern wird stärker, und dann würgt er; aber zwischen uns auf dem Boden landet nur Galle.
Rasch wische ich ihm den Mund ab, verbrenne den Dreck einfach. Richte seinen Blick wieder auf, indem ich sein Kinn hebe. "Zum Kotzen, ja. Aber das warst definitiv nicht du. Und jetzt ist er weg. Wir haben beide gegen ihn gewonnen. Lass den Sieg jetzt verdammt noch mal nicht umsonst sein und kämpfe weiter!"
"Wie kannst du so stark sein?", fleht er. "Wie machst du es? All diese Morde ... die Grausamkeiten ... die Menschen, die er ..."
Wieder will er sich übergeben, aber diesmal lasse ich ihn nicht.
"Es ist ganz einfach, mein Freund. Ich hatte keine Wahl. Und wenn du weißt, wie du zu deiner Haarfarbe gekommen bist, zu deinem Talent und deinem Verlangen, Trang-Ouls Avatar zu besitzen, dann wird dir auch klar sein, dass du weniger Schuld hattest, als du vielleicht denkst."
"Ich hatte keine Wahl ..."
Mein Griff um sein Kinn wird unwillkürlich fester. "Doch, die hattest du!", schreie ich ihn an. "Ganz so einfach lasse ich dich nicht davon kommen! Ich habe dir vergiftete Worte eingeflüstert, weil ich musste. Du hast auf sie gehört, weil du wolltest."
"Du hättest nie sein Diener bleiben müssen", flüstert er. "Du hättest jederzeit aufgeben können."
Ich funkle ihn für einen langen Moment an.
Dann lasse ich ihn los; er bleibt sicher stehen.
"Du hast keine Ahnung von den Gründen, warum ich das nicht tun konnte."
"Oder nicht tun wolltest?", gibt er trotzig zurück. Bevor ich etwas erwidern kann, setzt er nach. "Meinetwegen verstehe ich deine Beweggründe nicht. Aber dann maße dir nicht an, dass du all meine verstehst! Zur Hölle, wie sehr verstehen wir uns überhaupt? Bist du nicht ein anderer als der Golem, den ich früher meinen Freund nennen durfte?"
Zum ersten Mal senke ich meinen Blick. "Wir sind beide unwiederbringlich verändert worden."
Dann hebe ich den Blick wieder. "Aber ich möchte weiterhin, dass wir einander Freunde nennen dürfen."
Mit einer Geschwindigkeit, die etwas Verzweifeltes hat, ergreift er meine ausgestreckte Hand und schüttelt sie fest.
"Ich kann im Moment nichts mehr brauchen als einen Freund."
Mein Lächeln zeugt von der Spannung, die in mir abfällt. "Nun, wenngleich ich dich wieder Freund nennen darf - wie soll ich dich sonst nennen? Du wirst verstehen, dass ich deinen selbst gewählten Namen nie wieder in den Mund nehmen möchte."
Er erstarrt leicht. "Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht."
"Wir haben nie darüber geredet", stelle ich fest. "Wie hast du vorher geheißen?"
"Atma hätte es mir vielleicht sagen können", murmelt er. "Aber ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nie wieder der schwache Junge sein, der Waise, die Mücke ..."
Ich lasse seine Hand los, als mein Lächeln schwindet. "Nun, schwach bist du zumindest nicht mehr. Überleg dir etwas. Derweil bleibe ich bei 'Freund'."
Der Schalk übermannt mich für einen Moment. "Oder doch Neflum?"
Er knufft mich in die Schulter, aber kann sich ein Lächeln auch nicht verkneifen.
Ich seufze. "Dann muss ich dich jetzt um etwas bitten."
"Ja?"
"Dieser Körper ekelt mich an. Gib mir einen neuen."
"Aber ... er ist ohne Zweifel mächtig? Glaubst du nicht, dass wir gegen Baal ..."
Ich schneide ihn ab. "An diesen Klauen klebt Blut. Glaub mir, die Alternative wird mich stark genug machen. Großer Arreat, ich bitte dich - schenke mir wieder deine heilige Kraft. Ich werde sie nutzen, um das Geschwür an deinem Herzen auszumerzen!"
Ich höre sofort ein Geräusch; ein leises Rumpeln. Etwas weiter vorne ...
Vor Natalyas Leiche ist der Boden plötzlich von Rissen durchzogen, mehr als der Aufprall des Meteors alleine verantwortet hat. Ich trete näher, und verstehe, was der Berg möchte.
"Schaffst du das?", frage ich meinen Freund.
"Da soll mich doch ... ", murmelt er. Schluckt, als das traurige Bild wieder vor sich sieht. "Meinetwegen", knirscht er dann. "Stein hatten wir ja schon einmal ..."
Kurze Schwärze, dann stehe ich etwas weiter vorne. Hinter mir zerstäubt ein weiteres Relikt des Tyrannen, ein Symbol seiner Schreckensherrschaft, Feuer und Stahl ... die Gipfelwinde verwehen alles in Sekunden. Ich fühle mich gereinigt.
Lege die Hand an meine Stirn, konzentriere mich ... bis ich sie runzeln kann. Es ist grob, aber ich habe wieder ein Gesicht. Muss und wird genügen.
Dann knie ich mich vor der Leiche der mächtigen Assassine nieder.
"Der heilige Arreat erkennt dich als würdige Kriegerin an. Nicht einmal, sondern zweimal hast du die Urahnen geschlagen - bist ehrenvoll im Kampf zur Verteidigung des Berges gefallen. Diese Ehre ist das Geringste, was du verdienst."
Ich donnere meine Faust in den Boden. Halb von meiner formenden Magie, halb von der immer weiter schwindenden Macht des Berges gespeist, bäumen sich die Felsen des Gipfels auf. Schießen aus dem Boden, formen Säulen, hinter denen die schwarze Rüstung verschwindet. Begraben mit ihren Waffen ...
Es ist nicht genug. Aber der Berg versteht, dass es schnell gehen muss. Zumindest dies kann ich tun: ich greife mir die Spitze eines der Pfeiler, die im Kampf vorhin zerbrachen. Wenn all dies vorbei ist, wird jemand das Gipfelplateau wieder aufbauen müssen. Bis dahin ...
Der Pfeiler ist aus massivem Stein, und immer noch über drei Meter lang. Ich hebe ihn in einer einzigen Bewegung hoch und wuchte ihn auf meine gerade erschaffenen Säulen. Das Grab ist abgedeckt.
"Möge deine Seele ihren Frieden finden."
Meinem Freund kullern ungehemmte Tränen die Wangen herab. Ich gehe langsam an ihm vorbei, lege ihm verständnisvoll nickend die Hand auf die Schulter. Er dreht sich mit mir mit und geht ein paar Schritte an meiner Seite.
"Ich habe einen Plan", beginnt er. Ich hebe eine Augenbraue in seine Richtung.
"Er wird dir nicht gefallen."
Meine zweite Augenbraue hebt sich.
"Ich werde den Avatar wieder anziehen." Bevor ich heftig protestieren kann, hebt er - mit einiger Anstrengung und verzogenem Gesicht - beide Hände, die verbrannten Finger immer noch leicht gekrümmt. "Hör mich an. Baal hat uns nie gesehen, aber er kennt den General, in diesem Aufzug. Der General wollte seinen Pakt mit Baal erneuern und ihn dann verraten. Warum tun wir nicht das Gleiche? Die Zeit drängt - wir dürfen sie nicht damit verschwenden, uns durch den ganzen Turm zu kämpfen. Durch diese verabscheungswürdigen Erinnerungen in meinem Kopf weiß ich genau, was ich sagen muss, um Baal zu überzeugen, dass ich der General bin und wieder sein Diener sein möchte. Verdammt, du weißt das auch."
"Ich werde dich nicht wieder in die Nähe dieses Verbrechens gegen alles, was gut und richtig ist, lassen!"
"Du hast mit dem Jade-Tan-Do seine Seele herausgesaugt und sie dann vernichten lassen, oder? Hab ich das noch richtig mitbekommen? Es sind nur noch hässliche Stücke Metall!"
"Die uns beiden und der ganzen Stadt unendliches Leid beschert haben!"
"Ich weiß! Habe ich auch! Du willst mich trotzdem dabei haben! Pass auf, es ist mein Risiko. Deine Beherrschung ist weg, oder? Wenn ich Unfug anstelle, dann verpass mir die größte Beule aller Zeiten mit deiner Steinfaust und bring es allein zu Ende! Himmel, du hast diesen Pfeiler gerade gehoben, du könntest ihn Baal ins Herz rammen! Aber gib mir die Chance, zumindest etwas beizutragen. Etwas gutzumachen."
Er fängt wieder an zu zittern.
"Himmel, ich habe auch Dostrian umgebracht ... Hunradil wahrscheinlich auch ..."
Mein Blick wandert zu dem verfluchten Set. Zurück zu meinem Freund.
"Ich will dich nicht wieder verlieren", erkläre ich.
Seine Stimme zittert weit mehr als sein Körper. "Ich dachte, ich würde Verzweiflung kennen. Meine ganzes wertloses Leben bevor ich die Geheime Kunst fand alleine sollte mich das gelehrt haben. Aber ich habe falsch gedacht. Als ich diesen Helm aufgesetzt habe, da erst war ich wertlos. Weil ich nichts tun konnte, absolut gar nichts, um mich selbst zu behalten. Es ist das absolut Schlimmste, was mir je passiert ist."
Er deutet mit dem verletzten Arm auf das Set.
"Für eine Gelegenheit, doch noch etwas Gutes aus dieser Katastrophe zu gewinnen, ziehe ich es mir wieder an. Gehe ich das Risiko ein, es noch schlimmer zu machen, und dann ist es wirklich meine Schuld gewesen. Denk nicht, dass mir das leicht fällt. Dass ich es nur tue, weil ich glaube, ohne zu schwach zu sein. Aber ich gebe zu, das ist es auch. Ich habe Angst. Nicht um mein Leben ... darum, dass ich es nicht schaffe. Weil ich offenbar wertlos bin ohne die gestohlene Kraft eines antiken wahnsinnigen Massenmörders."
Ich bin still.
"Lass mich sein Erbe nutzen, um das Böse zu vernichten!"
"Feuer mit Feuer bekämpfen?", frage ich. "Ich habe immer gesagt, dass wir aufpassen müssen, in unseren Methoden nicht wie die Dämonen zu werden. Du dachtest, der Zweck heiligt die Mittel. Wozu hat das geführt?"
"Dorelems naive Unschuld hat das gesagt", wirft er ein. "Du bist pragmatischer."
"Ich bin immer noch Dorelem. Und lang nicht pragmatisch genug."
"Mir ist kalt, Dorelem!", brüllt er.
Ich sehe seinen zitternden Leib unter dem dünnen, löchrigen Hemd. Sehe meine kalten Steinhände, die nicht mehr von Feuer umgeben sind.
"Dann werden wir wohl pragmatisch sein müssen", knirsche ich.
Kurz darauf ist er wieder in verhasstem Gold gekleidet.
"Wie fühlst du dich?"
"Wärmer."
Er sackt in sich zusammen. "Und ganz ehrlich?" Unter seinen Füßen entstehen Knochengeister, die ihn schweben lassen. "Wenn ich nicht panische Angst vor den schlimmsten Alpträumen aller Zeiten hätte, wäre ich wahrscheinlich schon zusammengebrochen, um Jahre zu schlafen. Diese Technik ist wahnsinnig willkommen."
Als Antwort lasse ich meine Steinknöchel knacken. Dann gebe ich ihm das Jade-Tan-Do.
"Da sind ein Haufen armer Seelen immer noch eingesperrt. Wenn das hier vorbei ist, müssen wir dringend einen Weg finden, sie zu befreien."
Als er den Kris in die Hand nimmt, schweift sein Blick kurz ab. Schnell hängt er ihn dann an seinen Gürtel.
"Ja ... das müssen wir wohl."
Kurz darauf sind wir im Weltstein-Turm. Dessen Inneres ist prächtig auf eine Weise, die Jerhyns Harem als lächerlichen Kitsch entblößt. Kein Gold und kein Marmor zieren diese Mauern - sie sind aus sorgsam gemeißeltem Fels des Berges. Aber mit welcher Sorgfalt gemeißelt! Säulen, Ornamente, Verzierungen auf jeden Quadratzentimeter - alles streng regelmäßig und sicher nach rigider, längst vergessener Logik angeordnet. Der Boden ist gefließt mit komplizierten Mustern, die nur aus rechten Winkeln bestehen. Dieser Ort wirkt, als würde ich die Seele seiner Erbauer betreten - harte, geradelinige Menschen mit sicherem Wissen von und eisernem Glauben an ihre Pflicht als die Wächter dieses Berges.
Und hier und dort ist diese Seele zerstört - kristalline Auswüchse dringen an manchen Stellen durch den Boden, schimmern mit innerem Licht in Purpur bis Magenta. Erinnern mich sofort an Mephistos und Diablos Seelensteine. Auch in dem Gefühl, das sie verbreiten.
"Das muss passieren, weil Baal gerade dabei ist, den Weltstein zu bearbeiten ... ", flüstert mein Freund.
"Dann sollte ich so mit ihm in Verbindung treten können!"
"Bei allem, was heilig ist - und das ist hier viel - sei bloß vorsichtig", zische ich. Er zuckt mit den Schultern. "Nach all den Risiken der letzten Wochen ..."
Als seine Hand die Kristalloberfläche berührt, zucken plötzlich aus dem Boden - ohne den Stein in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen - mehrere fleischige Tentakel nach oben. Sie sind mit blasser Haut überzogen, unter der blaue Adern hervorschimmern, zucken schleimtropfend umher, überragen sogar den schwebenden Menschen um gut einen Meter. Die Spitzen senken sich bedrohlich herab ... ich laufe los. Da ertönt ein schallendes Lachen, das den ganzen Turm durchdringt und von überall her zu kommen scheint.
"Ein Köter kriecht zurück zu seinem Herrchen!", höhnt Baal. Seine Stimme ist ein tiefes Gurgeln von unmenschlicher Hohlheit. "Gib mir einen Grund, dich nicht hier und jetzt zu erwürgen!"
Ein Tentakel legt sich fast spielerisch auf die Schultern meines Freundes, der die Nase rümpft.
"Es gibt keinen Grund, es zu tun", sagt er - in der Stimme des Generals. Meine Finger zucken. Aber man hört, wie er sich anstrengt. Er spielt nur. Er spielt nur ...
"Ich war immer Euer Diener", fährt mein Freund fort. "Dieses Verhältnis sah ich nicht beendet mit Eurem ersten Tod, und auch nicht mit meinem ersten Tod. Nun sind wir beide zurück, und ich finde, wir sollten weitermachen, wie wir aufhörten."
"Du warst mein Diener, weil du nützlich warst", erklärt Baal. "Eine willkommene Ablenkung für die Menschen unter meiner Herrschaft. Ein kleiner Peitschenknaller meiner Armee, der sich immer für viel zu wichtig gehalten hat. Nun hat dein lächerliches Streben nach Unsterblichkeit mich einen tatsächlich nützlichen Diener gekostet, der mir Einiges an Zeit gespart hat bei der Belagerung Harrogaths. Was hast du dazu zu sagen?"
"Nihlathak hat Euch einen Dienst getan, um sein geringstes aller Dörfer zu erhalten. Um der Älteste der kleinsten und abgeschiedensten aller Barbarensiedlungen zu werden, deren einziger Zweck durch Eure Eroberung des Weltsteins sofort zu Nichte gemacht werden würde. Mit Verlaub, einen solchen Kleingeist als Diener könnt Ihr nicht brauchen, und ich bin mir sicher, dass Ihr ihn schon längst vergessen hättet, wenn Ihr mich nicht mit solch sinnlosen Fragen testen wolltet."
Der Tentakel zuckt. "Und du nimmst an, dass du weniger ein Kleingeist bist? Dein ganzes Leben hast du damit verbracht, es zu verlängern zu suchen. Wozu? Wenn du wirklich mein Diener hättest bleiben wollen, hättest du sterben können und mir in der Hölle zur Hand gehen können! Was immer noch das Einfachste für uns alle wäre!"
Mein Freund klatscht zweimal schnell in die Hände. "Golem!"
Alles nur gespielt ... meine Hand schießt vor, packe mehrere Tentakel und reiße sie ab. Die Stümpfe ziehen sich in das nicht-Loch im Boden zurück, aus dem sie kamen. Ich prügle einen weiteren Haufen von ihnen nieder, schlage nach tastenden Spitzen. Mein Freund wird angegriffen ... und er zündet zwei Feuerbälle aus seinen Händen, was die Tentakel zurückzucken lässt. "Genug!", ruft er. Ich halte inne. "Ich kein Wurm, den Ihr unter Eurem Fuß zermalmen könnt! Ich bin der General, und Ihr kennt meine Stärke! Gerne kämpfe ich mir den Weg zu Euch frei, um vor Euch persönlich nieder zu knien. Dann seid Euch gewiss, dass Ihr Eure volle Aufmerksamkeit auf mich wenden müsst, sonst werdet Ihr mich nicht einmal eine Sekunde lang aufhalten. Das hingegen würde Euch in Eurem Ziel zumindest für eine Weile aufhalten. Also seid nicht dumm. Wenn ich Euch auf Sanktuario nie nützlich gewesen wäre, hättet Ihr mich schon in meinem ersten Leben getötet, damit ich Euch eine Ewigkeit als Dämonensklave dienen darf."
"Das war einmal!", herrscht Baal. "Bald wird meine Macht größer sein, als sie je zuvor war!"
"Ja, auf Sanktuario. Aber was ist mit der Hölle?", grinst mein Freund giftig. Oho! Die Trumpfkarte!
"Ich weiß aus den Erinnerungen des Narren, dem dieser Körper einst gehörte, wie es um die Dinge dort steht. Eure Brüder sind vernichtet, ihre Seelen zerstreut! Andariel und Duriel waren nie stark. Azmodan war lange auf Sanktuario gefangen und konnte Belial nur kurz aufhalten. Der Herr der Lügen regiert beinahe absolut über das Inferno! Und nicht nur das! Dieser Körper ist gezeichnet mit seinem Mal. Wenn Ihr mich tötet, gehört meine Seele ihm, nicht Euch!"
"Auch das wird keinen Unterschied machen ... ", entgegnet Baal, aber nach eine sehr verräterischen Pause.
"Ihr werdet die Kontrolle über die Hölle irgendwann zurück wollen", setzt mein Freund nach. "Dann braucht ihr einen treuen Diener, hier auf Sanktuario. Jemand, der Euch nie verraten hat. Von dem Ihr wisst, dass Ihr Euch auf ihn verlassen könnt. Weil er nicht mehr will als die Macht auf Sanktuario. Über Menschen. Und unter Euch. Der Hölle und Himmel regieren wird!"
Kurz hält Baal inne ...
Dann ziehen sich die Tentakel zurück. Seine Worte hallen noch etwas länger durch den Raum.
"Dann komm zu mir, General ... "


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